Joachim Gauck: Einbürgerungsfeier anlässlich 65 Jahre Grundgesetz
Schloss Bellevue, 22. Mai 2014
Seien Sie alle herzlich willkommen an einem Tag, der uns einen doppelten Grund zur Freude gibt:
Morgen wird unser Grundgesetz 65 Jahre alt. Und heute werden 23 unter Ihnen Staatsbürger einer Republik, die auf der besten Verfassung gründet, die Deutschland jemals gehabt hat. Und zu diesem Anlass begrüße ich Sie herzlich in diesem schönen und bescheidenen Schloss Bellevue, meinem Dienstsitz, Ihrem Schloss. Und ich freue mich, dass Sie zusammen mit der Sonne, die über uns lacht, diesen Tag schön machen.
Liebe Ehrengäste: Ihre Lebensgeschichten sind so unterschiedlich wie die Gründe und Wege, die Sie hierher nach Deutschland geführt haben. Einige von Ihnen sind hier geboren und auch aufgewachsen. Andere kamen als Arbeiter, als Führungskräfte, als Wissenschaftler. Manche sind vor Gewalt und Unterdrückung geflohen, andere suchten ein besseres, ein freieres Leben für sich und ihre Kinder, wieder andere folgten einfach dem Glück oder der Liebe. Sie oder Ihre Eltern kommen aus Polen, Ungarn und Rumänien, aus der Ukraine, aus der Türkei, aus Ghana, Kamerun und der Elfenbeinküste, aus Bolivien und Brasilien, aus Israel, Nepal und dem Iran.
Unser Land, von dem noch vor einem Menschenalter Krieg und Völkermord ausgingen, dieses Land ist inzwischen Heimat für Menschen aus 190 Nationen geworden. Ganz gleich, woher die Einwanderer stammen und wie sie kamen – im Boot über das Mittelmeer oder in der Business Class im Flugzeug aus Übersee, als Erasmusstipendiaten oder als Familiennachzügler: Sie alle sind nun in Deutschland zu Hause. Das erfüllt mich mit Dank und mit Freude. Denn es zeigt: Sie mögen dieses Land, sie vertrauen dieser Republik. Und die deutsche Staatsbürgerschaft erleichtert Ihnen zudem den Alltag.
Mit dem Grundgesetz wurde das Fundament geschaffen für ein friedliches, pluralistisches und demokratisches Gemeinwesen. Erst für den Westen, natürlich, später dann für ganz Deutschland. So ist unser Land Teil der freien Welt geworden. Es lebt im Frieden mit allen seinen Nachbarn. Es ist offen, vielfältig und stark. Es ist wohlhabend. Unsere Soziale Marktwirtschaft und unser Sozialstaat versprechen gute Lebenschancen für alle. All das macht unser Land für viele Menschen in der Welt zu einem Sehnsuchtsort.
Zu diesem Deutschland sagen Sie, liebe Ehrengäste, heute auf neue Weise "ja".
Ich habe gehört, dass einer von Ihnen seinen Antrag auf Einbürgerung am Valentinstag gestellt hat: aus Liebe zu Deutschland. Wissen Sie was, die eingeborenen Deutschen sprechen selten solche Worte. Und es erfreut mich deshalb, aus Ihren Kreisen so oft ein Maß an Zuwendung gehört zu haben und auch eine Freude darüber, in diesem Land zu wohnen, dass ich mir manchmal denke: "Mehr davon"! – egal, woher es auch kommen mag.
Wie soll nun dieses Deutschland in Zukunft aussehen, damit auch unsere Kinder und Enkel "unser Land" sagen können? So habe ich in meiner ersten Rede als Bundespräsident gefragt. Daran möchte ich nun anknüpfen.
Ich will von den Veränderungen sprechen, die Einwanderung für unser Land bringt. Von den Zumutungen, die diese Veränderungen manchmal bedeuten. Von dem, was wir, Alt-Deutsche wie Neu-Deutsche, gewinnen und was wir längst gewonnen haben. Vor allem möchte ich aber über die Haltung sprechen, mit der wir einander begegnen oder begegnen sollten – als Gleiche und doch Verschiedene.
Jeder fünfte von uns hat inzwischen familiäre Wurzeln im Ausland, Tendenz steigend. Das hat verschiedene, gute Gründe: unsere wirtschaftliche und politische Stabilität, unsere Rechtssicherheit, unsere Zugehörigkeit zu einem Europa der Freizügigkeit und unsere humanitäre Verpflichtung gegenüber Verfolgten und nicht zuletzt auch die kulturelle Strahlkraft unseres Landes.
Ein Blick in den Saal genügt, um zu erkennen: Wer Deutscher ist, wird künftig noch viel weniger als bisher am Namen oder am Äußeren zu erkennen sein.
Und wenn ich in die Gesichter der jungen Leute hier vor mir sehe, dann weiß ich: Für diese Generation wird Deutschland nie anders gewesen sein als vielfältig.
Schauen wir uns um im Land. Mit Aydan Özoğuz sitzt erstmals eine Tochter von Einwanderern im Bundeskabinett. Dem Bundestag gehören heute mehr Abgeordnete mit Migrationshintergrund an als je zuvor. Ein Deutscher mit iranischer Familiengeschichte, Navid Kermani, wird morgen im Bundestag zur Feier unseres Verfassungstages sprechen. Ein im Irak geborener Designer, Rayan Abdullah, hat daran mitgewirkt, das Aussehen unseres Bundesadlers aufzufrischen und ihm im Wortsinne die Augen geöffnet. Und einem türkeistämmigen Regisseur, Bora Dağtekin, verdanken wir den erfolgreichsten deutschen Spielfilm des vergangenen Jahres. Ilija Trojanow, Terézia Mora, Saša Stanišić, – so heißen heutzutage die Träger des Leipziger Buchpreises. Sie schreiben auf Deutsch, doch ihre Helden sind auch außerhalb Deutschlands zuhause.
Der Blick ins Land zeigt, wie – ja, ich würde sagen – skurril es ist, wenn manche der Vorstellung anhängen, es könne so etwas geben wie ein homogenes, abgeschlossenes, gewissermaßen einfarbiges Deutschland. Es wird zunehmend als Normalität empfunden, dass wir verschieden sind – und zwar verschiedener denn je.
Dieser Wandel ruft unterschiedliche Reaktionen hervor. Wir wissen es. Nicht allen gefallen alle Begleiterscheinungen der Einwanderungsgesellschaft. Das ist ja auch verständlich: Das eigene Stadtviertel verändert sich. Nachbarn sprechen fremde Sprachen, haben andere Lebensgewohnheiten, andere Religionen. Ja, manche fürchten sogar, ihr Heimatgefühl zu verlieren.
Einwanderung ist immer und überall mit Fremdheitsgefühlen verbunden, jedenfalls zunächst. Verstärkt gilt das für Einwanderer aus hierarchisch geprägten Kulturen und Staaten. Sie fremdeln mit der offenen Gesellschaft, mit ihrer Freizügigkeit, ihrer zunehmenden Glaubensferne und dem, was sie als Vereinzelung empfinden.
Es ist wahr: Wo Verschiedenheit heimisch wird, da ändert sich das Zusammenleben. Einwanderung setzt starke Gefühle frei und birgt gelegentlich auch handfeste Konflikte. Die offene Gesellschaft verlangt uns allen einiges ab: jenen, die ankommen, und jenen, die sich öffnen müssen für Hinzukommende. Offen sein ist anstrengend.
Vergessen wir nicht: Migration ist der Geschichte der Völker nicht fremd – auch der deutschen nicht. Zu Hunderttausenden suchten unsere Vorfahren einst ihr Glück in der Fremde. Viele von ihnen würde man mit der heutigen Sprache "Armutseinwanderer" oder "Wirtschaftsflüchtlinge" nennen.
Umgekehrt wissen wir auch, was es bedeutet, andere aufzunehmen. Die Kowalskis und de Maizières gehören heute so selbstverständlich zu uns, dass wir kaum mehr die Zeit erinnern, in der sie hier heimisch wurden. Millionen Vertriebene haben nach dem Zweiten Weltkrieg erlebt, wie es ist, in einer deutschen Fremde anzukommen, nicht immer willkommen zu sein und schließlich doch ein neues Zuhause gefunden zu haben. Ich selbst weiß noch sehr gut, wie fremd uns in Mecklenburg zum Beispiel die Sudetendeutschen waren mit ihrer merkwürdigen Sprache, ihren Trachten, ihrem Katholizismus, das war doch sehr, sehr ungewöhnlich – und hat zunächst Distanzierung hervorgebracht, bis sie schließlich irgendwann einfach dazugehörten. Und heute? – ist diese Fremdheit eben völlig vergessen.
Aber heimisch werden, das kann dauern. Wer weiß heute noch, dass gerade die deutschen Einwanderer in Amerika gern lange unter sich blieben und lange brauchten, ehe sie sich einfügten in die Gesellschaft ihrer neuen Welt? Heimat zu finden ist eine Sache des Herzens, aber auch eine der bewussten Willensentscheidung. Erst hält man Abstand, sucht das Vertraute. Dann kommt man mehr und mehr in Kontakt. Manchmal auch in Konflikt. Und schließlich wächst die Gemeinschaft.
So geschieht es auch mit denen, die in den vergangenen 65 Jahren zu uns in die Bundesrepublik kamen: als sogenannte Gastarbeiter, als Aussiedler, als Flüchtlinge, als nachgezogene Ehepartner oder jüdische Zuwanderer aus den ehemaligen Sowjetrepubliken. Rund 16 Millionen Menschen unter uns kennen Einwanderung aus eigener Erfahrung oder als Teil der Familiengeschichte. Vier Millionen von ihnen sind Muslime.
Als längst klar war, dass viele bleiben würden, hieß es noch lange, Deutschland sei kein Einwanderungsland. Diese Haltung ist weitgehend überwunden – zum Glück, denn sie hat denen, die dazugehören wollten, Beheimatung und Teilhabe erschwert, und sie hat der aufnehmenden Gesellschaft die Illusion erlaubt, sie müsse sich nicht gleichfalls verändern.
Inzwischen hat die Politik erkannt, dass es nicht ausreicht, nichts zu tun. In den vergangenen 15 Jahren ist vieles angestoßen worden, was längst überfällig war. Heute kennen wir Integrationskurse, Integrationsgipfel, Integrationsbeauftragte. Und die meisten Menschen sehen den Alltag in der Einwanderungsgesellschaft inzwischen viel pragmatischer und gelassener, als er uns in Talkshows, Boulevardblättern oder Onlineforen begegnet. Das zeigt das sogenannte "Integrationsbarometer" des Sachverständigenrats für Migration und Integration, und dies weist sogar nach oben. Als Ziel für Zuwanderer wird unser Land immer beliebter – es steht inzwischen sogar auf Platz zwei der Industrienationen, nach den USA und vor klassischen Einwanderungsländern wie Kanada und Australien.
Wir können also sagen: Deutschland ist auf einem guten Weg und hat eine gute Wegstrecke bereits zurückgelegt.
Der größte Schritt war wahrscheinlich 1999 die Reform des Staatsbürgerschaftsrechts. Neben das ius sanguinis trat das ius soli. Seitdem kann Deutscher werden, wer in Deutschland geboren wurde, auch wenn seine Eltern es nicht sind. Inzwischen wächst auch die Gelassenheit, doppelte Staatsbürgerschaften als selbstverständlich hinzunehmen. Einige unter Ihnen, liebe Ehrengäste, werden von heute an zwei Pässe besitzen dürfen.
Ich habe in den vergangenen Wochen viel mit jungen Menschen gesprochen, die eine Einwanderungsgeschichte haben. Sie bringen aus ihren Familien je eigene Leiden, je eigene Prägungen mit, und diese Prägungen, die verlieren sich nicht einfach. Sie sind auch in den nachkommenden Generationen zum Teil noch spürbar – eine Erfahrung übrigens, die wir innerdeutsch gemacht haben, und zwar 1990, bei der Deutschen Vereinigung. Wir waren alle Deutsche und trotzdem verschieden. Und so lernen heute viele Kinder und Enkel von Migranten die Sprache und die Lieder ihrer Vorfahren und fühlen sich gleichzeitig im Deutschen daheim. Wenn sie ihre Großeltern in Irkutsk, Izmir oder Isfahan besuchen, kehren sie zurück nach Hause in Kiel, Karlsruhe oder Köln.
Mit diesen Erfahrungen im Hinterkopf sage ich: Die doppelte Staatsbürgerschaft ist Ausdruck der Lebenswirklichkeit einer wachsenden Zahl von Menschen. Es ist gut, dass sie nun nicht mehr als notwendiges Übel oder als Privileg bestimmter Gruppen betrachtet wird. Unser Land lernt gerade, dass Menschen sich mit verschiedenen Ländern verbunden und trotzdem in diesem, in unserem Land zu Hause fühlen können. Es lernt, dass eine Gesellschaft attraktiver wird, wenn sie vielschichtige Identitäten akzeptiert und niemanden zu einem lebensfremden Purismus zwingt.
Und es lernt, jene nicht auf Abstand zu halten, die doch schon längst zu uns gehören wollen.
Eine junge Frau aus einer vietnamesischen Familie wird in den Vereinigten Staaten oder in Großbritannien ohne weiteres als Amerikanerin oder Britin akzeptiert. In Deutschland hingegen wird sie oft noch gefragt, woher sie "eigentlich" komme. Nun ist Neugier ja nicht verboten. Aber es sollte klar sein, dass solche Fragen auch signalisieren könnten: "Du gehörst nicht wirklich zu uns." Wer auf der Straße eine Schwarze quasi automatisch auf Englisch anspricht, will vielleicht höflich sein, zugleich aber schließt er aus, dass eine schwarze Deutsche vor ihm stehen könnte.
Vor ein paar Wochen saßen hier auf der Bühne im Schloss Bellevue drei Journalistinnen, junge Frauen mit polnischen, vietnamesischen und türkischen Familiengeschichten, allesamt – wie es so schön heißt – "bestens integriert". Sie sprachen von ihrem Verhältnis zu Deutschland, von zwiespältigen Emotionen: "Wut, weil wir das Gefühl haben, außen vor zu bleiben; weil es ein deutsches ‚Wir‘ gibt, das uns ausgrenzt. Und Stolz, weil wir irgendwann beschlossen haben, unsere eigene Identität zu betonen."
Solche Worte treffen mich natürlich, sie freuen mich aber auch. Sie bedeuten: Menschen, die hier geboren, aufgewachsen und heimisch sind, fühlen sich immer wieder aufs Neue von Anderen zu "Anderen" gemacht. Das ist das, was uns betroffen machen kann.
Das darf nicht sein. Wir sollten nicht länger von "wir" und "denen" sprechen. Es gibt ein neues deutsches "Wir", das ist die Einheit der Verschiedenen. Und dazu gehören Sie genauso selbstverständlich wie ich.
Die Worte der drei Frauen erfreuen mich aber zugleich, denn ich erkenne dahinter auch Selbstbewusstsein. Sie wollen mitgestalten. Und etwas Besseres kann unserem Land doch gar nicht passieren. Denn sie bringen ihre Erfahrungen mit wie sie ihre Träume mitbringen. Sie erschließen Räume zwischen unterschiedlichen Traditionen und Lebenseinstellungen – und erweitern damit unseren gemeinsamen kulturellen Raum.
Heute Morgen habe ich gehört, dass heute etwas sehr Schönes in Berlin ansteht: 90 Jahre ist der Mann, der hier einen Auftritt hat. Er kommt aus Frankreich, wir kennen ihn alle als Franzosen, Charles Aznavour. Er füllt einen der ganz großen Säle, 90 Jahre alt – ein Armenier aus einer armen armenischen Familie, mühsam in Paris hochgekommen und zu einer europäischen Figur geworden. Er gehört einfach zu uns. Was für ein schönes Beispiel.
Erweiterung ist das Kennzeichen der Lebenswirklichkeit in Einwanderungsgesellschaften. Das betrifft Alteingesessene genauso wie Hinzugekommene. Erweiterung umfasst zweierlei: Wenn etwa Konflikte aus Herkunftsländern nach Deutschland mitgebracht und hier ausgetragen werden, erleben wir Erweiterung durchaus auch als belastend. Aber das Miteinander der Verschiedenen hat uns doch kulturell und menschlich so viel positive Erfahrungen beschert, das wir ganz bewusst das schöne Wort "Bereicherung" verwenden dürfen.
Das alles, worüber ich jetzt spreche, war auch für mich als Person ein Lernen, ein Kennenlernen. Die meisten von Ihnen wissen ja, dass ich nicht aus Berlin komme, aus einer Metropole. Ich komme aus Mecklenburg. Dort, wie generell in der DDR, ist man sich früher bekanntlich sehr ähnlich gewesen. Ich habe selbst gemerkt, dass man in wenigen Jahren sein Bild vom "Ich" und vom "Wir" verändern kann.
Und ich selber, und das spüren Sie heute, ich selber habe das als Bereicherung erlebt. Ich weiß, wovon ich spreche, wenn ich dieses Wort benutze. Und wie kam das? Es waren Begegnungen mit Menschen verschiedener Herkunft, die mich verändert haben. Ich traf oft auf Menschen, gerade junge, die beglückt, tatkräftig und zuversichtlich sind, weil sie hier so leben, so lieben und so glauben können, wie sie es wollen. Ich wünschte mir, dass dieses Lebensgefühl von vielen, vielen in Deutschland geteilt werden könnte.
Und noch etwas. Es gibt ein lateinisches Sprichwort: Ubi bene, ibi patria. Frei übersetzt: Wo es mir gut geht, da ist mein Vaterland. Das sollte man nicht nur materiell ausdeuten, dann wäre es falsch verstanden. Unzählige Einwanderer sind dankbar, dass ihnen dieses Land Zukunft eröffnet, dass es ihnen Rechtssicherheit bietet, und dass sie in einer rechtstreuen Gesellschaft leben.
Ich habe also mein eigenes Land neu sehen und seinen Weg verstehen gelernt: Einwanderung wurde zuerst ignoriert, später abgelehnt, noch später ertragen und geduldet, und schließlich als Chance erkannt und bejaht. Und in diesem Stadium befinden wir uns heute. Heute weiß ich: Wir verlieren uns nicht, wenn wir Vielfalt akzeptieren. Wir wollen dieses vielfältige "Wir". Wir wollen es nicht besorgnisbrütend fürchten. Wir wollen es zukunftsorientiert und zukunftsgewiss bejahen.
Vor diesem Hintergrund können wir auch viel gelassener über die Probleme reden, die auch mit der Einwanderungsgesellschaft verbunden sind: Ghettobildung, wo es sie denn gibt, Jugendkriminalität, patriarchalische Weltbilder oder Homophobie, Sozialhilfekarrieren oder Schulschwänzer. Ja, es gibt Familien, deren Mitglieder Dauergäste bei Polizei und Justiz sind. Ja, es gibt Milieus, in denen die Hinwendung zur Religion, zur Abgrenzung von der Mehrheitsgesellschaft führt. Ja, es gibt auch Einwanderer, die Antisemitismus mitbringen. Ja, es gibt auch Familien, die die Rechte von Frauen und Mädchen missachten.
Ja, es gibt also reale Befunde, die wir auch ernst nehmen müssen. Probleme sollen doch nicht verschwiegen werden, weil die falsche Seite applaudieren könnte. Gleichzeitig aber müssen wir darauf achten, mit Kritik an diesen Phänomenen nicht ganze Gruppen zu stigmatisieren. Auch gilt es, kulturelle und soziale Ursachen nicht einfach in einen Topf zu werfen. Meistens sind es nämlich die letzteren und nicht die kulturellen oder ethnischen Prägungen, die uns Probleme machen. Und statt darüber zu streiten, welche Probleme nun unzulässig dramatisiert oder verharmlost werden, sollten wir unsere Energie lieber darauf verwenden, Probleme zu lösen – gemeinsam, als Anliegen unserer Gesellschaft. Unserer Gesellschaft!
Auf viele Probleme gibt es ganz klare Antworten. Diese Antworten, sie sind auch nicht verhandelbar, denn sie finden sich im Gesetz. Sie gelten, egal, wie lange jemand schon hier lebt. Sie durchzusetzen, das ist Sache des Staates. Es kann keine mildernden Umstände geben für kulturelle Eigenarten, die unseren Gesetzen zuwiderlaufen.
In anderen Fällen tun wir uns schwerer. Immer wieder werden wir ausloten müssen: Welche Werte sind für ein gelingendes Miteinander unverzichtbar? Welche sind verhandelbar? Wo ist Toleranz geboten? Wann wandelt sich Toleranz in Gleichgültigkeit oder wird zur bequemen Kapitulation vor Intoleranz und Ignoranz?
Eine gute Richtschnur, nun kommen wir wieder darauf, ist unsere Verfassung, die wir heute am Vorabend des Tages des Grundgesetzes feiern. Sie ist der Grund, auf dem wir uns begegnen – die Bürgerinnen und Bürger. Wir sind zuallererst Bürgerinnen und Bürger auf der Grundlage dieser Verfassung. Und dann kommen unsere individuellen ethnischen oder religiösen Prägungen.
Achtung vor der Würde des Einzelnen, Gleichberechtigung, Respekt vor Andersdenkenden und Anderslebenden: Auf diesen Werten und Normen beruht unsere Freiheit. Es sind Werte, die wir, jedenfalls im Westen, über Jahrzehnte eingeübt haben. Ich habe häufig schon erlebt, wie sehr sie gerade von jenen geschätzt und verteidigt werden, die aus Ländern stammen, in denen sie, diese Werte, verachtet werden. Es ist unsere Sache, von Bürgerinnen und Bürgern, wir stehen für diese Werte ein.
Wir verteidigen sie gemeinsam gegen alle, die unsere offene Gesellschaft verachten oder gar gefährden, gegen alle Feinde der Demokratie, gegen alle Rassisten und Fundamentalisten, gleich welcher Herkunft oder welcher Ideologe auch immer: "Null Toleranz" gegenüber jenen, die unseren gemeinsamen Grund, die Verfassung verlassen.
Wir sind die Vielen. Und das müssen wir zeigen. Und wir müssen dazulernen – auch aus dem Erschrecken darüber, wie lange etwa Morde einer terroristischen Gruppe an Einwanderern unentdeckt blieben, weil nur so wenige sahen oder sehen wollten, woher die Täter kamen.
Innerhalb des Rahmens unserer Verfassung und der Gesetze kann jeder nach seiner Façon selig werden. Unsere Gesellschaft lässt Andere anders sein. Sie hat sogar abseitige Meinungen und Lebensweisen zu ertragen. Und sie ist offen für Veränderungen, sofern diese Veränderungen im demokratischen Prozess ausgehandelt werden. Und das ist ihre große Stärke.
Gerade eine Einwanderungsgesellschaft ist immer auch eine Aushandlungsgesellschaft.
Dafür gibt es viele Beispiele: etwa die Debatte über den Bau von Moscheen, um das Kopftuch im öffentlichen Dienst oder um die Beschneidung von jungen Juden oder Muslimen. In manchen Fragen wird kein Kompromiss alle Beteiligten zufriedenstellen und allen Bedenken Rechnung tragen können. In anderen Fällen ist Entgegenkommen überhaupt nicht schwer: Es ist eigentlich kein großer Schritt, die Bestattungsregeln an muslimische Gebote anzupassen – für viele Gläubige aber ist es ein hochbedeutsamer Schritt.
Hinter vielen Aushandlungsprozessen steht der Wunsch nach Anerkennung, nach Gleichberechtigung und Teilhabe. In anderen Aushandlungsprozessen muss nachjustiert werden, was bisher unzureichend geregelt wurde. Und immer geht es dabei auch um die Frage, welche Veränderungen unsere Gesellschaft akzeptiert.
Wir werden solche Auseinandersetzungen immer öfter erleben – aber nicht, weil Integration immer schlechter, im Gegenteil, weil sie immer besser gelingt. Und das wird uns neue Debattenlagen bescheren.
Dabei muss niemandem bange sein um das, was unser Land geprägt hat und es noch heute ausmacht. Was deutsch ist, ist nicht immer leicht zu fassen, und es verändert sich ja auch. Es sind bestimmte Tugenden und Gewohnheiten, Traditionen und Bräuche, Lieder, Speisen, die Klassiker der Literatur, Musik und Kultur, die unsere Vorfahren hinterließen, all das, warum sich jemand deutsch fühlt, spätestens wenn er im Ausland ist.
Wir wollen nicht, dass Kindergärten aus falsch verstandener Rücksicht Sankt-Martins-Umzüge bleiben lassen oder Belegschaften die Weihnachtsfeier in „Jahresabschlussfeier“ umtaufen. Und wer vom Bundespräsidenten eine Weihnachtskarte bekommt, der wird weiterhin "Frohe Weihnachten" darauf lesen und nicht etwa "Seasons greetings".
Wer seine eigenen kulturellen Werte gering schätzt, wird kaum von Anderen Respekt dafür erwarten können. Ich wünsche mir also einen Alltag, in dem wir das selbstverständlich Eigene achten – und dem Anderen selbstverständlich Raum geben.
Unser Land braucht Einwanderung. Die demographischen und wirtschaftlichen Begründungen sind schon oft und überzeugend vorgetragen worden. Dabei ist eines klar: Wir können nicht alle aufnehmen, die kommen möchten. Wir haben nun begonnen, Einwanderung aktiv zu steuern und klare gesetzliche Voraussetzungen für Zuwanderer zu schaffen.
Für jene, die bereits hier leben, sind Wege zu finden, wie sie ihre Potentiale tatsächlich entwickeln und einbringen können. Es ist eine immense Herausforderung für unser gesamtes Bildungssystem, Kindern heutzutage annähernd gleiche Startchancen zu verschaffen, egal, in welchem Stadtviertel und in welcher familiären Situation sie geboren sind.
Zwar sind die Eltern nach wie vor in erster Linie verantwortlich: Viele Eltern fördern ja ihre Kinder auch intensiv, wollen unbedingt, dass ihre Kinder es einmal besser haben. Aber dort, wo die Eltern – warum auch immer – ausfallen oder überfordert sind, da können wir den Kindern doch nicht einfach sagen: Pech gehabt!
Vor allem in den Großstädten gibt es Milieus – übrigens nicht nur in Einwanderervierteln –, in denen Kinder niemanden haben, der ihnen nachmittags bei den Hausaufgaben helfen kann. Für diese Kinder muss die Schule den Nachteil ausgleichen. Vor allem muss sie das Erlernen der deutschen Sprache fördern.
Wir müssen um jedes dieser Kinder kämpfen. Denn diese Kinder sind unsere Kinder, sie wachsen nicht in irgendeiner, sie wachsen in unserer Gesellschaft auf, sie gehen in unsere Kindergärten, sie gehen in unsere Schulen. Es ist unser Erfolg, wenn sie erfolgreich sind, und es ist unser Scheitern, wenn sie scheitern.
Wenn Kinder heute, aus unterschiedlichen Gründen, immer seltener den Erwartungen entsprechen, die Schulen bisher hatten, dann müssen sich auch unsere Schulen ändern.
Es gibt solche, die das in bewundernswürdiger Weise schaffen, mit aufmerksamen, sensiblen Lehrerinnen und Lehrern, die unterschiedliche Begabungen erkennen, unterschiedlichen Herkünften Rechnung tragen, die Mut machen, Grenzen aufzeigen und die Verabredungen mit den Eltern treffen. Tatsache ist aber auch: Es sind noch zu wenige solcher Schulen, in denen all das geschieht, zu viele Lehrerinnen und Schulleiter gibt es, die sich alleingelassen fühlen.
Am Ende ist es natürlich auch immer ein Ringen um Ressourcen. Kein Weg führt vorbei an der Einsicht: Ein gerechtes Bildungssystem, eines, das Verschiedensein als Bereicherung begreift und das den Herausforderungen der Einwanderungsgesellschaft genügt, ein solches Bildungssystem wird Geld kosten – aber es ist Geld, das gut angelegt ist!
Chancengerechtigkeit braucht aber immer noch mehr als Geld, es braucht unsere, es braucht eine geistige Öffnung. Dass jeder fünfte in unserem Land eine Einwanderungsgeschichte hat, muss überall sichtbar werden, nicht nur auf dem Fußballplatz oder bei der Tagesschau. Wir brauchen viel mehr Rollenvorbilder, viel mehr Menschen mit Zuwanderungsgeschichte in Schulen und Behörden, bei der Polizei, in Kindergärten, in Theatern und Universitäten, in Redaktionen, in Ministerien, in Parteien und in Verbänden!
Einstieg und Aufstieg zu gewährleisten, ist beides: eine Frage der Gerechtigkeit und ein Gewinn für die Gesellschaft.
Eine wichtige Funktion auf dem Weg in die Mehrheitsgesellschaft kommt dabei jenen zu, die als Eingewanderte neuen Einwanderern den Weg weisen. Ich habe das selbst bei meinem Besuch hier in Neukölln erlebt, als ich den Stadtteilmüttern begegnet bin. Die vermitteln gezielte Hilfen beim Start in die neue Gesellschaft, Starthilfe. Wie wertvoll ist es, wenn jemand kommt, der sagt: „Komm, ich zeige Dir einen Weg.“ Diese Frauen sind selbst eingewandert, diese Stadtteilmütter. Aber nun öffnen sie schon Türen, die anderen verschlossen bleiben. Sie wissen, wie schwierig es ist, zwischen den Erwartungen der Herkunftskultur und der hiesigen Gemeinschaft zu leben. Sie kennen die Ängste mancher Eltern, ihre Kinder in der neuen Gesellschaft nicht mehr zu verstehen, ja, sie vielleicht gar zu verlieren. Solche Mentorenprogramme gibt es auch andernorts. Ich kann nur schwer verstehen, warum ihr Fortbestand gefährdet sein soll.
Ich kann auch nicht mehr verstehen, warum Jugendliche, bloß weil sie Slavenka oder Mehmet heißen, bei gleichem Zeugnis und Lebenslauf noch immer schlechtere Chancen auf eine Lehrstelle oder eine Wohnung haben als Lena oder Lukas. In unserem Grundgesetz steht dazu ein Satz, der klarer nicht sein könnte: „Niemand darf wegen seines Geschlechtes, seiner Abstammung, seiner Rasse, seiner Sprache, seiner Heimat, seiner Herkunft, seines Glaubens, seiner religiösen oder politischen Anschauungen benachteiligt oder bevorzugt werden.“
Diskriminierung, sie schadet allen. Junge Leute aus Einwandererfamilien werden entmutigt und verleitet zu sagen: "Wozu soll ich mich anstrengen, die wollen mich doch eh‘ nicht". Und diejenigen, die es geschafft haben, eine gute Ausbildung zu erhalten, werden danach in Länder gehen, in denen man sie nach ihrer Leistung beurteilt und nicht nach ihrer Herkunft, dorthin, wo ihnen nicht ständig bedeutet wird: "Passt Euch gefälligst an", sondern wo man sie mit ihrer ganzen Persönlichkeit annimmt – und mitgestalten lässt.
Es gäbe noch viel darüber zu sagen, wie sich unsere Gesellschaft und ihre Institutionen besser auf das Zusammenleben der Verschiedenen einstellen könnten.
Aber dann werden Sie, liebe Ehrengäste, sich fragen: Bekomme ich heute eigentlich noch meine Einbürgerungsurkunde? Auch ich freue mich doch auf diesen Moment und er kommt jetzt gleich. Ich freue mich darauf, Ihnen eine Ausgabe unseres Grundgesetzes zu überreichen, die wir eigens für Einbürgerungsfeiern – und davon wird es hoffentlich noch viele in Deutschland geben – haben drucken lassen.
Lassen Sie mich deshalb nun zum Schluss kommen, zuvor aber noch von einer Begegnung erzählen. Es war ausgerechnet ein junger Mann, der mir kürzlich begegnete, bei einem Treffen mit vielen Vereinen, meist Jugendlicher. Das war ein türkeistämmiger Deutscher, der mir in einer Gesprächsrunde über Integrationsprobleme riet: "Geduld!"
Dieses Wort aus einem so jugendlichen Gesicht, das hat mich doch einigermaßen erstaunt. Ich musste darüber nachdenken. Und mir ist eingefallen, na klar, natürlich, wir brauchen auch Geduld. Aber Einwanderung gelingt und ist gelungen auch deshalb, weil so viele früher Ungeduld an den Tag gelegt haben und alles daran gesetzt haben, Politik und Gesellschaft in Bewegung zu bringen.
Ich bin sicher: Die Geduldigen wie die Ungeduldigen, sie werden gemeinsam dafür sorgen, dass alle, die hier leben, zu diesem Land „unser Land“ sagen können.
Dieses Land, unser Land ist heute, und es ist auch mit Ihrer Ankunft in der Staatsbürgerschaft, nicht vollendet und immer noch nicht und noch lange nicht und vielleicht nie perfekt. Nach Ihnen werden andere Menschen zu uns kommen wollen. Und es wird weiter und wieder Annäherung geben, neue Freuden, aber auch manche Reibung. Und Sie werden dann zu den Alteingesessenen gehören und werden, zusammen mit meinen Kindern und Enkeln, neu um Toleranz, Respekt und Teilhabe ringen. In einer offenen Gesellschaft sind es doch auch die Kontroversen, die irgendwann zur Normalität führen.
Und zu dieser Gesellschaft, zu diesem Deutschland sagen Sie heute ganz bewusst "ja". Und unser Land sagt "ja" zu Ihnen.
Schloss Bellevue, 22. Mai 2014
Seien Sie alle herzlich willkommen an einem Tag, der uns einen doppelten Grund zur Freude gibt:
Morgen wird unser Grundgesetz 65 Jahre alt. Und heute werden 23 unter Ihnen Staatsbürger einer Republik, die auf der besten Verfassung gründet, die Deutschland jemals gehabt hat. Und zu diesem Anlass begrüße ich Sie herzlich in diesem schönen und bescheidenen Schloss Bellevue, meinem Dienstsitz, Ihrem Schloss. Und ich freue mich, dass Sie zusammen mit der Sonne, die über uns lacht, diesen Tag schön machen.
Liebe Ehrengäste: Ihre Lebensgeschichten sind so unterschiedlich wie die Gründe und Wege, die Sie hierher nach Deutschland geführt haben. Einige von Ihnen sind hier geboren und auch aufgewachsen. Andere kamen als Arbeiter, als Führungskräfte, als Wissenschaftler. Manche sind vor Gewalt und Unterdrückung geflohen, andere suchten ein besseres, ein freieres Leben für sich und ihre Kinder, wieder andere folgten einfach dem Glück oder der Liebe. Sie oder Ihre Eltern kommen aus Polen, Ungarn und Rumänien, aus der Ukraine, aus der Türkei, aus Ghana, Kamerun und der Elfenbeinküste, aus Bolivien und Brasilien, aus Israel, Nepal und dem Iran.
Unser Land, von dem noch vor einem Menschenalter Krieg und Völkermord ausgingen, dieses Land ist inzwischen Heimat für Menschen aus 190 Nationen geworden. Ganz gleich, woher die Einwanderer stammen und wie sie kamen – im Boot über das Mittelmeer oder in der Business Class im Flugzeug aus Übersee, als Erasmusstipendiaten oder als Familiennachzügler: Sie alle sind nun in Deutschland zu Hause. Das erfüllt mich mit Dank und mit Freude. Denn es zeigt: Sie mögen dieses Land, sie vertrauen dieser Republik. Und die deutsche Staatsbürgerschaft erleichtert Ihnen zudem den Alltag.
Mit dem Grundgesetz wurde das Fundament geschaffen für ein friedliches, pluralistisches und demokratisches Gemeinwesen. Erst für den Westen, natürlich, später dann für ganz Deutschland. So ist unser Land Teil der freien Welt geworden. Es lebt im Frieden mit allen seinen Nachbarn. Es ist offen, vielfältig und stark. Es ist wohlhabend. Unsere Soziale Marktwirtschaft und unser Sozialstaat versprechen gute Lebenschancen für alle. All das macht unser Land für viele Menschen in der Welt zu einem Sehnsuchtsort.
Zu diesem Deutschland sagen Sie, liebe Ehrengäste, heute auf neue Weise "ja".
Ich habe gehört, dass einer von Ihnen seinen Antrag auf Einbürgerung am Valentinstag gestellt hat: aus Liebe zu Deutschland. Wissen Sie was, die eingeborenen Deutschen sprechen selten solche Worte. Und es erfreut mich deshalb, aus Ihren Kreisen so oft ein Maß an Zuwendung gehört zu haben und auch eine Freude darüber, in diesem Land zu wohnen, dass ich mir manchmal denke: "Mehr davon"! – egal, woher es auch kommen mag.
Wie soll nun dieses Deutschland in Zukunft aussehen, damit auch unsere Kinder und Enkel "unser Land" sagen können? So habe ich in meiner ersten Rede als Bundespräsident gefragt. Daran möchte ich nun anknüpfen.
Ich will von den Veränderungen sprechen, die Einwanderung für unser Land bringt. Von den Zumutungen, die diese Veränderungen manchmal bedeuten. Von dem, was wir, Alt-Deutsche wie Neu-Deutsche, gewinnen und was wir längst gewonnen haben. Vor allem möchte ich aber über die Haltung sprechen, mit der wir einander begegnen oder begegnen sollten – als Gleiche und doch Verschiedene.
Jeder fünfte von uns hat inzwischen familiäre Wurzeln im Ausland, Tendenz steigend. Das hat verschiedene, gute Gründe: unsere wirtschaftliche und politische Stabilität, unsere Rechtssicherheit, unsere Zugehörigkeit zu einem Europa der Freizügigkeit und unsere humanitäre Verpflichtung gegenüber Verfolgten und nicht zuletzt auch die kulturelle Strahlkraft unseres Landes.
Ein Blick in den Saal genügt, um zu erkennen: Wer Deutscher ist, wird künftig noch viel weniger als bisher am Namen oder am Äußeren zu erkennen sein.
Und wenn ich in die Gesichter der jungen Leute hier vor mir sehe, dann weiß ich: Für diese Generation wird Deutschland nie anders gewesen sein als vielfältig.
Schauen wir uns um im Land. Mit Aydan Özoğuz sitzt erstmals eine Tochter von Einwanderern im Bundeskabinett. Dem Bundestag gehören heute mehr Abgeordnete mit Migrationshintergrund an als je zuvor. Ein Deutscher mit iranischer Familiengeschichte, Navid Kermani, wird morgen im Bundestag zur Feier unseres Verfassungstages sprechen. Ein im Irak geborener Designer, Rayan Abdullah, hat daran mitgewirkt, das Aussehen unseres Bundesadlers aufzufrischen und ihm im Wortsinne die Augen geöffnet. Und einem türkeistämmigen Regisseur, Bora Dağtekin, verdanken wir den erfolgreichsten deutschen Spielfilm des vergangenen Jahres. Ilija Trojanow, Terézia Mora, Saša Stanišić, – so heißen heutzutage die Träger des Leipziger Buchpreises. Sie schreiben auf Deutsch, doch ihre Helden sind auch außerhalb Deutschlands zuhause.
Der Blick ins Land zeigt, wie – ja, ich würde sagen – skurril es ist, wenn manche der Vorstellung anhängen, es könne so etwas geben wie ein homogenes, abgeschlossenes, gewissermaßen einfarbiges Deutschland. Es wird zunehmend als Normalität empfunden, dass wir verschieden sind – und zwar verschiedener denn je.
Dieser Wandel ruft unterschiedliche Reaktionen hervor. Wir wissen es. Nicht allen gefallen alle Begleiterscheinungen der Einwanderungsgesellschaft. Das ist ja auch verständlich: Das eigene Stadtviertel verändert sich. Nachbarn sprechen fremde Sprachen, haben andere Lebensgewohnheiten, andere Religionen. Ja, manche fürchten sogar, ihr Heimatgefühl zu verlieren.
Einwanderung ist immer und überall mit Fremdheitsgefühlen verbunden, jedenfalls zunächst. Verstärkt gilt das für Einwanderer aus hierarchisch geprägten Kulturen und Staaten. Sie fremdeln mit der offenen Gesellschaft, mit ihrer Freizügigkeit, ihrer zunehmenden Glaubensferne und dem, was sie als Vereinzelung empfinden.
Es ist wahr: Wo Verschiedenheit heimisch wird, da ändert sich das Zusammenleben. Einwanderung setzt starke Gefühle frei und birgt gelegentlich auch handfeste Konflikte. Die offene Gesellschaft verlangt uns allen einiges ab: jenen, die ankommen, und jenen, die sich öffnen müssen für Hinzukommende. Offen sein ist anstrengend.
Vergessen wir nicht: Migration ist der Geschichte der Völker nicht fremd – auch der deutschen nicht. Zu Hunderttausenden suchten unsere Vorfahren einst ihr Glück in der Fremde. Viele von ihnen würde man mit der heutigen Sprache "Armutseinwanderer" oder "Wirtschaftsflüchtlinge" nennen.
Umgekehrt wissen wir auch, was es bedeutet, andere aufzunehmen. Die Kowalskis und de Maizières gehören heute so selbstverständlich zu uns, dass wir kaum mehr die Zeit erinnern, in der sie hier heimisch wurden. Millionen Vertriebene haben nach dem Zweiten Weltkrieg erlebt, wie es ist, in einer deutschen Fremde anzukommen, nicht immer willkommen zu sein und schließlich doch ein neues Zuhause gefunden zu haben. Ich selbst weiß noch sehr gut, wie fremd uns in Mecklenburg zum Beispiel die Sudetendeutschen waren mit ihrer merkwürdigen Sprache, ihren Trachten, ihrem Katholizismus, das war doch sehr, sehr ungewöhnlich – und hat zunächst Distanzierung hervorgebracht, bis sie schließlich irgendwann einfach dazugehörten. Und heute? – ist diese Fremdheit eben völlig vergessen.
Aber heimisch werden, das kann dauern. Wer weiß heute noch, dass gerade die deutschen Einwanderer in Amerika gern lange unter sich blieben und lange brauchten, ehe sie sich einfügten in die Gesellschaft ihrer neuen Welt? Heimat zu finden ist eine Sache des Herzens, aber auch eine der bewussten Willensentscheidung. Erst hält man Abstand, sucht das Vertraute. Dann kommt man mehr und mehr in Kontakt. Manchmal auch in Konflikt. Und schließlich wächst die Gemeinschaft.
So geschieht es auch mit denen, die in den vergangenen 65 Jahren zu uns in die Bundesrepublik kamen: als sogenannte Gastarbeiter, als Aussiedler, als Flüchtlinge, als nachgezogene Ehepartner oder jüdische Zuwanderer aus den ehemaligen Sowjetrepubliken. Rund 16 Millionen Menschen unter uns kennen Einwanderung aus eigener Erfahrung oder als Teil der Familiengeschichte. Vier Millionen von ihnen sind Muslime.
Als längst klar war, dass viele bleiben würden, hieß es noch lange, Deutschland sei kein Einwanderungsland. Diese Haltung ist weitgehend überwunden – zum Glück, denn sie hat denen, die dazugehören wollten, Beheimatung und Teilhabe erschwert, und sie hat der aufnehmenden Gesellschaft die Illusion erlaubt, sie müsse sich nicht gleichfalls verändern.
Inzwischen hat die Politik erkannt, dass es nicht ausreicht, nichts zu tun. In den vergangenen 15 Jahren ist vieles angestoßen worden, was längst überfällig war. Heute kennen wir Integrationskurse, Integrationsgipfel, Integrationsbeauftragte. Und die meisten Menschen sehen den Alltag in der Einwanderungsgesellschaft inzwischen viel pragmatischer und gelassener, als er uns in Talkshows, Boulevardblättern oder Onlineforen begegnet. Das zeigt das sogenannte "Integrationsbarometer" des Sachverständigenrats für Migration und Integration, und dies weist sogar nach oben. Als Ziel für Zuwanderer wird unser Land immer beliebter – es steht inzwischen sogar auf Platz zwei der Industrienationen, nach den USA und vor klassischen Einwanderungsländern wie Kanada und Australien.
Wir können also sagen: Deutschland ist auf einem guten Weg und hat eine gute Wegstrecke bereits zurückgelegt.
Der größte Schritt war wahrscheinlich 1999 die Reform des Staatsbürgerschaftsrechts. Neben das ius sanguinis trat das ius soli. Seitdem kann Deutscher werden, wer in Deutschland geboren wurde, auch wenn seine Eltern es nicht sind. Inzwischen wächst auch die Gelassenheit, doppelte Staatsbürgerschaften als selbstverständlich hinzunehmen. Einige unter Ihnen, liebe Ehrengäste, werden von heute an zwei Pässe besitzen dürfen.
Ich habe in den vergangenen Wochen viel mit jungen Menschen gesprochen, die eine Einwanderungsgeschichte haben. Sie bringen aus ihren Familien je eigene Leiden, je eigene Prägungen mit, und diese Prägungen, die verlieren sich nicht einfach. Sie sind auch in den nachkommenden Generationen zum Teil noch spürbar – eine Erfahrung übrigens, die wir innerdeutsch gemacht haben, und zwar 1990, bei der Deutschen Vereinigung. Wir waren alle Deutsche und trotzdem verschieden. Und so lernen heute viele Kinder und Enkel von Migranten die Sprache und die Lieder ihrer Vorfahren und fühlen sich gleichzeitig im Deutschen daheim. Wenn sie ihre Großeltern in Irkutsk, Izmir oder Isfahan besuchen, kehren sie zurück nach Hause in Kiel, Karlsruhe oder Köln.
Mit diesen Erfahrungen im Hinterkopf sage ich: Die doppelte Staatsbürgerschaft ist Ausdruck der Lebenswirklichkeit einer wachsenden Zahl von Menschen. Es ist gut, dass sie nun nicht mehr als notwendiges Übel oder als Privileg bestimmter Gruppen betrachtet wird. Unser Land lernt gerade, dass Menschen sich mit verschiedenen Ländern verbunden und trotzdem in diesem, in unserem Land zu Hause fühlen können. Es lernt, dass eine Gesellschaft attraktiver wird, wenn sie vielschichtige Identitäten akzeptiert und niemanden zu einem lebensfremden Purismus zwingt.
Und es lernt, jene nicht auf Abstand zu halten, die doch schon längst zu uns gehören wollen.
Eine junge Frau aus einer vietnamesischen Familie wird in den Vereinigten Staaten oder in Großbritannien ohne weiteres als Amerikanerin oder Britin akzeptiert. In Deutschland hingegen wird sie oft noch gefragt, woher sie "eigentlich" komme. Nun ist Neugier ja nicht verboten. Aber es sollte klar sein, dass solche Fragen auch signalisieren könnten: "Du gehörst nicht wirklich zu uns." Wer auf der Straße eine Schwarze quasi automatisch auf Englisch anspricht, will vielleicht höflich sein, zugleich aber schließt er aus, dass eine schwarze Deutsche vor ihm stehen könnte.
Vor ein paar Wochen saßen hier auf der Bühne im Schloss Bellevue drei Journalistinnen, junge Frauen mit polnischen, vietnamesischen und türkischen Familiengeschichten, allesamt – wie es so schön heißt – "bestens integriert". Sie sprachen von ihrem Verhältnis zu Deutschland, von zwiespältigen Emotionen: "Wut, weil wir das Gefühl haben, außen vor zu bleiben; weil es ein deutsches ‚Wir‘ gibt, das uns ausgrenzt. Und Stolz, weil wir irgendwann beschlossen haben, unsere eigene Identität zu betonen."
Solche Worte treffen mich natürlich, sie freuen mich aber auch. Sie bedeuten: Menschen, die hier geboren, aufgewachsen und heimisch sind, fühlen sich immer wieder aufs Neue von Anderen zu "Anderen" gemacht. Das ist das, was uns betroffen machen kann.
Das darf nicht sein. Wir sollten nicht länger von "wir" und "denen" sprechen. Es gibt ein neues deutsches "Wir", das ist die Einheit der Verschiedenen. Und dazu gehören Sie genauso selbstverständlich wie ich.
Die Worte der drei Frauen erfreuen mich aber zugleich, denn ich erkenne dahinter auch Selbstbewusstsein. Sie wollen mitgestalten. Und etwas Besseres kann unserem Land doch gar nicht passieren. Denn sie bringen ihre Erfahrungen mit wie sie ihre Träume mitbringen. Sie erschließen Räume zwischen unterschiedlichen Traditionen und Lebenseinstellungen – und erweitern damit unseren gemeinsamen kulturellen Raum.
Heute Morgen habe ich gehört, dass heute etwas sehr Schönes in Berlin ansteht: 90 Jahre ist der Mann, der hier einen Auftritt hat. Er kommt aus Frankreich, wir kennen ihn alle als Franzosen, Charles Aznavour. Er füllt einen der ganz großen Säle, 90 Jahre alt – ein Armenier aus einer armen armenischen Familie, mühsam in Paris hochgekommen und zu einer europäischen Figur geworden. Er gehört einfach zu uns. Was für ein schönes Beispiel.
Erweiterung ist das Kennzeichen der Lebenswirklichkeit in Einwanderungsgesellschaften. Das betrifft Alteingesessene genauso wie Hinzugekommene. Erweiterung umfasst zweierlei: Wenn etwa Konflikte aus Herkunftsländern nach Deutschland mitgebracht und hier ausgetragen werden, erleben wir Erweiterung durchaus auch als belastend. Aber das Miteinander der Verschiedenen hat uns doch kulturell und menschlich so viel positive Erfahrungen beschert, das wir ganz bewusst das schöne Wort "Bereicherung" verwenden dürfen.
Das alles, worüber ich jetzt spreche, war auch für mich als Person ein Lernen, ein Kennenlernen. Die meisten von Ihnen wissen ja, dass ich nicht aus Berlin komme, aus einer Metropole. Ich komme aus Mecklenburg. Dort, wie generell in der DDR, ist man sich früher bekanntlich sehr ähnlich gewesen. Ich habe selbst gemerkt, dass man in wenigen Jahren sein Bild vom "Ich" und vom "Wir" verändern kann.
Und ich selber, und das spüren Sie heute, ich selber habe das als Bereicherung erlebt. Ich weiß, wovon ich spreche, wenn ich dieses Wort benutze. Und wie kam das? Es waren Begegnungen mit Menschen verschiedener Herkunft, die mich verändert haben. Ich traf oft auf Menschen, gerade junge, die beglückt, tatkräftig und zuversichtlich sind, weil sie hier so leben, so lieben und so glauben können, wie sie es wollen. Ich wünschte mir, dass dieses Lebensgefühl von vielen, vielen in Deutschland geteilt werden könnte.
Und noch etwas. Es gibt ein lateinisches Sprichwort: Ubi bene, ibi patria. Frei übersetzt: Wo es mir gut geht, da ist mein Vaterland. Das sollte man nicht nur materiell ausdeuten, dann wäre es falsch verstanden. Unzählige Einwanderer sind dankbar, dass ihnen dieses Land Zukunft eröffnet, dass es ihnen Rechtssicherheit bietet, und dass sie in einer rechtstreuen Gesellschaft leben.
Ich habe also mein eigenes Land neu sehen und seinen Weg verstehen gelernt: Einwanderung wurde zuerst ignoriert, später abgelehnt, noch später ertragen und geduldet, und schließlich als Chance erkannt und bejaht. Und in diesem Stadium befinden wir uns heute. Heute weiß ich: Wir verlieren uns nicht, wenn wir Vielfalt akzeptieren. Wir wollen dieses vielfältige "Wir". Wir wollen es nicht besorgnisbrütend fürchten. Wir wollen es zukunftsorientiert und zukunftsgewiss bejahen.
Vor diesem Hintergrund können wir auch viel gelassener über die Probleme reden, die auch mit der Einwanderungsgesellschaft verbunden sind: Ghettobildung, wo es sie denn gibt, Jugendkriminalität, patriarchalische Weltbilder oder Homophobie, Sozialhilfekarrieren oder Schulschwänzer. Ja, es gibt Familien, deren Mitglieder Dauergäste bei Polizei und Justiz sind. Ja, es gibt Milieus, in denen die Hinwendung zur Religion, zur Abgrenzung von der Mehrheitsgesellschaft führt. Ja, es gibt auch Einwanderer, die Antisemitismus mitbringen. Ja, es gibt auch Familien, die die Rechte von Frauen und Mädchen missachten.
Ja, es gibt also reale Befunde, die wir auch ernst nehmen müssen. Probleme sollen doch nicht verschwiegen werden, weil die falsche Seite applaudieren könnte. Gleichzeitig aber müssen wir darauf achten, mit Kritik an diesen Phänomenen nicht ganze Gruppen zu stigmatisieren. Auch gilt es, kulturelle und soziale Ursachen nicht einfach in einen Topf zu werfen. Meistens sind es nämlich die letzteren und nicht die kulturellen oder ethnischen Prägungen, die uns Probleme machen. Und statt darüber zu streiten, welche Probleme nun unzulässig dramatisiert oder verharmlost werden, sollten wir unsere Energie lieber darauf verwenden, Probleme zu lösen – gemeinsam, als Anliegen unserer Gesellschaft. Unserer Gesellschaft!
Auf viele Probleme gibt es ganz klare Antworten. Diese Antworten, sie sind auch nicht verhandelbar, denn sie finden sich im Gesetz. Sie gelten, egal, wie lange jemand schon hier lebt. Sie durchzusetzen, das ist Sache des Staates. Es kann keine mildernden Umstände geben für kulturelle Eigenarten, die unseren Gesetzen zuwiderlaufen.
In anderen Fällen tun wir uns schwerer. Immer wieder werden wir ausloten müssen: Welche Werte sind für ein gelingendes Miteinander unverzichtbar? Welche sind verhandelbar? Wo ist Toleranz geboten? Wann wandelt sich Toleranz in Gleichgültigkeit oder wird zur bequemen Kapitulation vor Intoleranz und Ignoranz?
Eine gute Richtschnur, nun kommen wir wieder darauf, ist unsere Verfassung, die wir heute am Vorabend des Tages des Grundgesetzes feiern. Sie ist der Grund, auf dem wir uns begegnen – die Bürgerinnen und Bürger. Wir sind zuallererst Bürgerinnen und Bürger auf der Grundlage dieser Verfassung. Und dann kommen unsere individuellen ethnischen oder religiösen Prägungen.
Achtung vor der Würde des Einzelnen, Gleichberechtigung, Respekt vor Andersdenkenden und Anderslebenden: Auf diesen Werten und Normen beruht unsere Freiheit. Es sind Werte, die wir, jedenfalls im Westen, über Jahrzehnte eingeübt haben. Ich habe häufig schon erlebt, wie sehr sie gerade von jenen geschätzt und verteidigt werden, die aus Ländern stammen, in denen sie, diese Werte, verachtet werden. Es ist unsere Sache, von Bürgerinnen und Bürgern, wir stehen für diese Werte ein.
Wir verteidigen sie gemeinsam gegen alle, die unsere offene Gesellschaft verachten oder gar gefährden, gegen alle Feinde der Demokratie, gegen alle Rassisten und Fundamentalisten, gleich welcher Herkunft oder welcher Ideologe auch immer: "Null Toleranz" gegenüber jenen, die unseren gemeinsamen Grund, die Verfassung verlassen.
Wir sind die Vielen. Und das müssen wir zeigen. Und wir müssen dazulernen – auch aus dem Erschrecken darüber, wie lange etwa Morde einer terroristischen Gruppe an Einwanderern unentdeckt blieben, weil nur so wenige sahen oder sehen wollten, woher die Täter kamen.
Innerhalb des Rahmens unserer Verfassung und der Gesetze kann jeder nach seiner Façon selig werden. Unsere Gesellschaft lässt Andere anders sein. Sie hat sogar abseitige Meinungen und Lebensweisen zu ertragen. Und sie ist offen für Veränderungen, sofern diese Veränderungen im demokratischen Prozess ausgehandelt werden. Und das ist ihre große Stärke.
Gerade eine Einwanderungsgesellschaft ist immer auch eine Aushandlungsgesellschaft.
Dafür gibt es viele Beispiele: etwa die Debatte über den Bau von Moscheen, um das Kopftuch im öffentlichen Dienst oder um die Beschneidung von jungen Juden oder Muslimen. In manchen Fragen wird kein Kompromiss alle Beteiligten zufriedenstellen und allen Bedenken Rechnung tragen können. In anderen Fällen ist Entgegenkommen überhaupt nicht schwer: Es ist eigentlich kein großer Schritt, die Bestattungsregeln an muslimische Gebote anzupassen – für viele Gläubige aber ist es ein hochbedeutsamer Schritt.
Hinter vielen Aushandlungsprozessen steht der Wunsch nach Anerkennung, nach Gleichberechtigung und Teilhabe. In anderen Aushandlungsprozessen muss nachjustiert werden, was bisher unzureichend geregelt wurde. Und immer geht es dabei auch um die Frage, welche Veränderungen unsere Gesellschaft akzeptiert.
Wir werden solche Auseinandersetzungen immer öfter erleben – aber nicht, weil Integration immer schlechter, im Gegenteil, weil sie immer besser gelingt. Und das wird uns neue Debattenlagen bescheren.
Dabei muss niemandem bange sein um das, was unser Land geprägt hat und es noch heute ausmacht. Was deutsch ist, ist nicht immer leicht zu fassen, und es verändert sich ja auch. Es sind bestimmte Tugenden und Gewohnheiten, Traditionen und Bräuche, Lieder, Speisen, die Klassiker der Literatur, Musik und Kultur, die unsere Vorfahren hinterließen, all das, warum sich jemand deutsch fühlt, spätestens wenn er im Ausland ist.
Wir wollen nicht, dass Kindergärten aus falsch verstandener Rücksicht Sankt-Martins-Umzüge bleiben lassen oder Belegschaften die Weihnachtsfeier in „Jahresabschlussfeier“ umtaufen. Und wer vom Bundespräsidenten eine Weihnachtskarte bekommt, der wird weiterhin "Frohe Weihnachten" darauf lesen und nicht etwa "Seasons greetings".
Wer seine eigenen kulturellen Werte gering schätzt, wird kaum von Anderen Respekt dafür erwarten können. Ich wünsche mir also einen Alltag, in dem wir das selbstverständlich Eigene achten – und dem Anderen selbstverständlich Raum geben.
Unser Land braucht Einwanderung. Die demographischen und wirtschaftlichen Begründungen sind schon oft und überzeugend vorgetragen worden. Dabei ist eines klar: Wir können nicht alle aufnehmen, die kommen möchten. Wir haben nun begonnen, Einwanderung aktiv zu steuern und klare gesetzliche Voraussetzungen für Zuwanderer zu schaffen.
Für jene, die bereits hier leben, sind Wege zu finden, wie sie ihre Potentiale tatsächlich entwickeln und einbringen können. Es ist eine immense Herausforderung für unser gesamtes Bildungssystem, Kindern heutzutage annähernd gleiche Startchancen zu verschaffen, egal, in welchem Stadtviertel und in welcher familiären Situation sie geboren sind.
Zwar sind die Eltern nach wie vor in erster Linie verantwortlich: Viele Eltern fördern ja ihre Kinder auch intensiv, wollen unbedingt, dass ihre Kinder es einmal besser haben. Aber dort, wo die Eltern – warum auch immer – ausfallen oder überfordert sind, da können wir den Kindern doch nicht einfach sagen: Pech gehabt!
Vor allem in den Großstädten gibt es Milieus – übrigens nicht nur in Einwanderervierteln –, in denen Kinder niemanden haben, der ihnen nachmittags bei den Hausaufgaben helfen kann. Für diese Kinder muss die Schule den Nachteil ausgleichen. Vor allem muss sie das Erlernen der deutschen Sprache fördern.
Wir müssen um jedes dieser Kinder kämpfen. Denn diese Kinder sind unsere Kinder, sie wachsen nicht in irgendeiner, sie wachsen in unserer Gesellschaft auf, sie gehen in unsere Kindergärten, sie gehen in unsere Schulen. Es ist unser Erfolg, wenn sie erfolgreich sind, und es ist unser Scheitern, wenn sie scheitern.
Wenn Kinder heute, aus unterschiedlichen Gründen, immer seltener den Erwartungen entsprechen, die Schulen bisher hatten, dann müssen sich auch unsere Schulen ändern.
Es gibt solche, die das in bewundernswürdiger Weise schaffen, mit aufmerksamen, sensiblen Lehrerinnen und Lehrern, die unterschiedliche Begabungen erkennen, unterschiedlichen Herkünften Rechnung tragen, die Mut machen, Grenzen aufzeigen und die Verabredungen mit den Eltern treffen. Tatsache ist aber auch: Es sind noch zu wenige solcher Schulen, in denen all das geschieht, zu viele Lehrerinnen und Schulleiter gibt es, die sich alleingelassen fühlen.
Am Ende ist es natürlich auch immer ein Ringen um Ressourcen. Kein Weg führt vorbei an der Einsicht: Ein gerechtes Bildungssystem, eines, das Verschiedensein als Bereicherung begreift und das den Herausforderungen der Einwanderungsgesellschaft genügt, ein solches Bildungssystem wird Geld kosten – aber es ist Geld, das gut angelegt ist!
Chancengerechtigkeit braucht aber immer noch mehr als Geld, es braucht unsere, es braucht eine geistige Öffnung. Dass jeder fünfte in unserem Land eine Einwanderungsgeschichte hat, muss überall sichtbar werden, nicht nur auf dem Fußballplatz oder bei der Tagesschau. Wir brauchen viel mehr Rollenvorbilder, viel mehr Menschen mit Zuwanderungsgeschichte in Schulen und Behörden, bei der Polizei, in Kindergärten, in Theatern und Universitäten, in Redaktionen, in Ministerien, in Parteien und in Verbänden!
Einstieg und Aufstieg zu gewährleisten, ist beides: eine Frage der Gerechtigkeit und ein Gewinn für die Gesellschaft.
Eine wichtige Funktion auf dem Weg in die Mehrheitsgesellschaft kommt dabei jenen zu, die als Eingewanderte neuen Einwanderern den Weg weisen. Ich habe das selbst bei meinem Besuch hier in Neukölln erlebt, als ich den Stadtteilmüttern begegnet bin. Die vermitteln gezielte Hilfen beim Start in die neue Gesellschaft, Starthilfe. Wie wertvoll ist es, wenn jemand kommt, der sagt: „Komm, ich zeige Dir einen Weg.“ Diese Frauen sind selbst eingewandert, diese Stadtteilmütter. Aber nun öffnen sie schon Türen, die anderen verschlossen bleiben. Sie wissen, wie schwierig es ist, zwischen den Erwartungen der Herkunftskultur und der hiesigen Gemeinschaft zu leben. Sie kennen die Ängste mancher Eltern, ihre Kinder in der neuen Gesellschaft nicht mehr zu verstehen, ja, sie vielleicht gar zu verlieren. Solche Mentorenprogramme gibt es auch andernorts. Ich kann nur schwer verstehen, warum ihr Fortbestand gefährdet sein soll.
Ich kann auch nicht mehr verstehen, warum Jugendliche, bloß weil sie Slavenka oder Mehmet heißen, bei gleichem Zeugnis und Lebenslauf noch immer schlechtere Chancen auf eine Lehrstelle oder eine Wohnung haben als Lena oder Lukas. In unserem Grundgesetz steht dazu ein Satz, der klarer nicht sein könnte: „Niemand darf wegen seines Geschlechtes, seiner Abstammung, seiner Rasse, seiner Sprache, seiner Heimat, seiner Herkunft, seines Glaubens, seiner religiösen oder politischen Anschauungen benachteiligt oder bevorzugt werden.“
Diskriminierung, sie schadet allen. Junge Leute aus Einwandererfamilien werden entmutigt und verleitet zu sagen: "Wozu soll ich mich anstrengen, die wollen mich doch eh‘ nicht". Und diejenigen, die es geschafft haben, eine gute Ausbildung zu erhalten, werden danach in Länder gehen, in denen man sie nach ihrer Leistung beurteilt und nicht nach ihrer Herkunft, dorthin, wo ihnen nicht ständig bedeutet wird: "Passt Euch gefälligst an", sondern wo man sie mit ihrer ganzen Persönlichkeit annimmt – und mitgestalten lässt.
Es gäbe noch viel darüber zu sagen, wie sich unsere Gesellschaft und ihre Institutionen besser auf das Zusammenleben der Verschiedenen einstellen könnten.
Aber dann werden Sie, liebe Ehrengäste, sich fragen: Bekomme ich heute eigentlich noch meine Einbürgerungsurkunde? Auch ich freue mich doch auf diesen Moment und er kommt jetzt gleich. Ich freue mich darauf, Ihnen eine Ausgabe unseres Grundgesetzes zu überreichen, die wir eigens für Einbürgerungsfeiern – und davon wird es hoffentlich noch viele in Deutschland geben – haben drucken lassen.
Lassen Sie mich deshalb nun zum Schluss kommen, zuvor aber noch von einer Begegnung erzählen. Es war ausgerechnet ein junger Mann, der mir kürzlich begegnete, bei einem Treffen mit vielen Vereinen, meist Jugendlicher. Das war ein türkeistämmiger Deutscher, der mir in einer Gesprächsrunde über Integrationsprobleme riet: "Geduld!"
Dieses Wort aus einem so jugendlichen Gesicht, das hat mich doch einigermaßen erstaunt. Ich musste darüber nachdenken. Und mir ist eingefallen, na klar, natürlich, wir brauchen auch Geduld. Aber Einwanderung gelingt und ist gelungen auch deshalb, weil so viele früher Ungeduld an den Tag gelegt haben und alles daran gesetzt haben, Politik und Gesellschaft in Bewegung zu bringen.
Ich bin sicher: Die Geduldigen wie die Ungeduldigen, sie werden gemeinsam dafür sorgen, dass alle, die hier leben, zu diesem Land „unser Land“ sagen können.
Dieses Land, unser Land ist heute, und es ist auch mit Ihrer Ankunft in der Staatsbürgerschaft, nicht vollendet und immer noch nicht und noch lange nicht und vielleicht nie perfekt. Nach Ihnen werden andere Menschen zu uns kommen wollen. Und es wird weiter und wieder Annäherung geben, neue Freuden, aber auch manche Reibung. Und Sie werden dann zu den Alteingesessenen gehören und werden, zusammen mit meinen Kindern und Enkeln, neu um Toleranz, Respekt und Teilhabe ringen. In einer offenen Gesellschaft sind es doch auch die Kontroversen, die irgendwann zur Normalität führen.
Und zu dieser Gesellschaft, zu diesem Deutschland sagen Sie heute ganz bewusst "ja". Und unser Land sagt "ja" zu Ihnen.